4.3 Zeitraum des Bestehens eines Objekts
Trotz aller scheinbaren Klarheit enthält bereits die Wortverbindung "Zeitraum des Bestehens eines Objekts" eine Unbestimmtheit. Tatsächlich konnte selbst im einfachsten Fall vom Befehl zur Einrichtung bis zum ersten irgendwie gearteten Betrieb, z.B. eines Besserungsarbeitslagers oder zumindest seines Verwaltungsapparates, bereits einige Zeit verstreichen. Die ersten Gefangenen hingegen – das zeigen die Unterlagen der Erfassungs- und Verteilungsabteilung (URO) der Hauptverwaltung der Lager (GULAG) – konnten auch erst nach einem halben Jahr im Lager eintreffen. Wurde ein Lager (insbesondere ein großes) aufgelöst, mussten Zuständigkeiten neu geregelt, Bilanzen übergeben und häufig eine große Anzahl von Menschen (Gefangene, andere "Sonderkontingente", freie Arbeiter aus dem Produktionssektor, die Lagerwache und der Verwaltungsapparat aus allen Bereichen) und viele materielle Werte von einem Ort an einen anderen transportiert werden. In diesen Fällen konnte von der Unterzeichnung des Befehls bis zur tatsächlichen Auflösung des Lagers ein halbes Jahr und mehr verstreichen. Deshalb wird in den Lagereinträgen im Feld "Dauer" ein bestimmtes Verfahren gewählt, um den Zeitraum des Bestehens eines Objekts anzugeben.
4.3.1 Grundsätzliche Datierungsprinzipien
Die Autoren haben sich hauptsächlich auf die Befehle des NKWD-MWD zur Einrichtung und Schließung gestützt, um die entsprechenden Daten für ein Objekt zu bestimmen. Im einfachsten Fall ist das Datum im Wortlaut des Befehls enthalten. Die Formulierungen lauten in etwa: "gilt als eröffnet ab…", "gilt als geschlossen zum..." "zu schließen zum…". In diesem Falle gilt als Eröffnungs- bzw. Schließungsdatum das im Befehl angegebene Datum, unabhängig von der Datierung des Befehls an sich. Wenn die Eröffnung rückwirkend per Befehl angeordnet wurde (siehe z.B. SYSRAN-ITL), so findet sich eine entsprechende Anmerkung als Fußnote.
Ist im Befehl kein Datum zur Eröffnung bzw. Schließung eines Lagers angegeben, so werden die Eckdaten anhand der Datierungen der entsprechenden Befehle bestimmt.
Doch selbst in den Fällen, in denen direkte Weisungen vorliegen, wird eine Datierung häufig durch folgende Umstände erschwert:
Unterschiedliche Ausgaben ein und desselben Befehls wurden häufig mit einem Unterschied von einigen Tagen datiert, da die eine Ausgabe das Datum der Unterschrift, eine andere das Datum der Registrierung usw. vermerkt. Diesen Unterschieden wurde nicht nachgegangen, da sie für die vorliegende Arbeit unerheblich sind.
Die Ausführung eines Befehls zur Eröffnung oder Schließung eines Objekts konnte durch eine spätere Anweisung gestoppt werden. Typische Formulierungen hierfür sind: "in teilweiser Änderung des Befehls Nr…. ist die Einrichtung [Name] zu stoppen", "die Schließung des [Name]-ITL ist bis auf weiteres zu stoppen". Es sind auch Fälle bekannt, bei denen es zu einem erneuten Befehl über die Einrichtung eines Lagers kam (siehe z.B. BAU 462 UND ITL). Da die zugänglichen Archivunterlagen lückenhaft sind, ist davon auszugehen, dass es für einige Lager immer noch nicht entdeckte Weisungsdokumente gibt. Deshalb wurden für die Bestimmung der Bestehenszeit eines Lagers alle zugänglichen Unterlagen herangezogen (siehe 4.3.2).
Bei einigen Lagern gab es Unterbrechungen in der Zeit ihres Bestehens. So wurde z.B. das ITL Unterer Amur 1939 eröffnet, 1947 geschlossen, 1948 erneut eröffnet und 1955 endgültig geschlossen. Diese Fälle werden wie folgt gekennzeichnet: Wurde das Lager unter derselben Bezeichnung, demselben Status, mit derselben Wirtschaftstätigkeit und in derselben geographischen Region wiedereröffnet, so wird es nicht als neues Objekt betrachtet, sondern in einem Eintrag behandelt, wobei auf die Unterbrechung hingewiesen wird (siehe z.B. ITL UND REPARATURARBEITEN AN SCHLEUSE UND DAMM DES STAUSEES "SNAMENITAJA", ITL UNTERER AMUR). Wenn jedoch auch nur eine der aufgezählten Bedingungen nicht erfüllt ist, dann wird das Objekt in unterschiedlichen Lagereinträgen behandelt (siehe z.B. ASOWSCHES ITL und ASOWSCHE LAGERABTEILUNG).
Besondere Schwierigkeiten ergaben sich, wenn im Befehl über die Auflösung eines Objekts lediglich die Produktionsverwaltung und nicht das damit verbundene Besserungsarbeitslager erwähnt wurde. Ein gründliches Quellenstudium hat gezeigt, dass in der Regel das betreffende Besserungsarbeitslager ebenfalls aufgelöst wurde und die einzelnen Lagerunterabteilungen an die Territorialverwaltung bzw. –abteilung übergeben wurden.
4.3.2 Quellen zur genauen Bestimmung der Datierungen
Die wichtigsten Dokumente, die zusätzliche Informationen über die Dauer des Bestehens eines Lagers enthalten, sind: Übergabeprotokolle und Bilanzen nach Stilllegung von Lagern, verschiedene Berichte der Erfassungs- und Verteilungsabteilung (URO) der Hauptverwaltung der Lager (GULAG), Postverteiler für Rundschreiben und andere postalische und telegraphische Korrespondenz, Befehle über die Verlegung von Lagern. Betrachten wir die am häufigsten anzutreffenden komplexen Fälle, für die diese Unterlagen zur Ermittlung der Datierung herangezogen wurden.
Von 1935 bis 1953 gab das NKWD-MWD regelmäßig Befehle heraus, in denen es die Standorte aller Lager, die der Zentralverwaltung unterstellt waren, und von Besserungsarbeitslagern, die Territorialverwaltungen unterstellt waren, mitteilte (siehe Liste allgemeiner Quellenverweise). Zusätzlich dazu wurden Befehle zu Standortverlegungen herausgegeben. Die informativsten Unterlagen zur Ermittlung der Bestehenszeit eines Objekts stellen die Befehle der Jahre 1939–1946 dar, die in halbjährlichen Abständen erschienen. Da jeder nachfolgende Befehl sich auf den vorhergehenden bezieht, kann man sogar ohne vollständige Durchsicht aller Dokumente wenigstens die Zeitspanne bestimmen, innerhalb derer ein Lager eingerichtet oder aufgelöst wurde. Dabei ist hervorzuheben, dass diese Unterlagen die einzigen von allen in diesem Abschnitt aufgeführten Dokumenten sind, in denen Veränderungen der Lagernamen sowie die vollständigen offiziellen Lagerbezeichnungen festgehalten sind.
Die Berichte der Erfassungs- und Verteilungsabteilung (URO) der Hauptverwaltung der Lager (GULAG) enthalten detaillierte Informationen über den Zu- und Abgang von Häftlingen und anderen "Sonderkontingenten" in den zentralverwalteten Lagern. Dazu gehören nicht nur die monatliche Berichterstattung, sondern ebenso operative, im zehntägigen Rhythmus erstellte Berichte über die Insassenzahlen. Anhand dieser Dokumente ließ sich die tatsächliche Dauer des Lagerbetriebs sehr genau zu bestimmen. Allerdings mussten dabei einige Umstände beachtet werden, die die Auswertung dieser Berichte erschwerten. Die meisten Berichte waren für interne Zwecke bestimmt, weswegen man sich bei ihrer Erstellung gewisse "Freiheiten" erlaubte:
Die Lager wurden oftmals in ihren verkürzten oder unvollständigen Bezeichnungen aufgeführt, z.B. "BurLag" anstelle von "Burein-ITL".
Viele Berichte berücksichtigten nicht die im Laufe eines Jahres vorgenommenen Namensänderungen. Anscheinend wurden für die unterschiedlichen Statistiken Formblätter mit vorgedruckten Lagerbezeichnungen benutzt, die erst zum Jahreswechsel am 1. Januar erneuert wurden. Neu gebildete Lager wurden häufig von Hand am Ende der Tabelle eingetragen.
Bei der Erfassung des "Arbeitskräftekontingents" konnte es passieren, dass in den Berichten neben dem Besserungsarbeitslager auch jene Produktionsverwaltungen aufgeführt wurden, die nicht nur Häftlinge, sondern auch andere "Sonderkontingente" auf Vertragsbasis beschäftigten (Genaueres siehe 4.6 Wirtschaftstätigkeit). Dies und die verwendeten Abkürzungen erschwerten die Analyse der Informationen erheblich. Wenn z.B. einige Lager im Bericht unter der verkürzten Bezeichnung ihrer Produktionsverwaltung aufgeführt werden (also nicht Workuta-ITL, sondern Workutstroi), dann ist es unmöglich, allein auf Grundlage dieser Dokumente zwischen Lager- und Produktionsverwaltung zu unterscheiden. Außerdem wird in den Berichten manchmal die Gesamtzahl aller "Sonderkontingente" und nicht nur die der Häftlinge angegeben, ohne gesondert darauf hinzuweisen. In diesen Fällen könnte somit als Besserungsarbeitslager die Wirtschaftsverwaltung, welche Arbeitssoldaten, Sondersiedler oder Internierte beschäftigte, gehalten werden.
Fehlende Übereinstimmung zwischen den Daten der Befehle zur Einrichtung und Schließung eines Lagers und dem Zeitraum, innerhalb dessen sich dort tatsächlich Gefangene befanden. In der Regel trafen die ersten Gefangenen ein bis drei Monate nach Verkündung des entsprechenden Befehls im Lager ein. Nach seiner offiziellen Auflösung wurde das Lager in den Meldungen der Erfassungs- und Verteilungsabteilung (URO) der Hauptverwaltung der Lager (GULAG) weitere zwei bis vier Monate als in Betrieb befindlich geführt. In einigen Fällen jedoch gab es deutliche Unterschiede zwischen diesen Fristen – sie konnten auch länger oder kürzer sein. So wurden z.B. nach Kriegsbeginn viele Lager geschlossen. Der entsprechende Befehl über die Auflösung stammt vom 28. Juni 1941, und den Meldungen zufolge gab es bereits im Juli keine Gefangenen mehr in den meisten Lagern. Diese Unbestimmtheit betrifft vor allem die Fälle, in denen nur der Befehl zur Auflösung der Produktionsverwaltung bekannt ist (siehe 4.3.1 Grundsätzliche Datierungsprinzipien) und die gleichzeitige Auflösung des Besserungsarbeitslagers mithilfe anderer Quellen bestätigt werden muss.
Wertvolle Informationen konnten auch aus den Verteilerlisten der Rundschreiben und anderer postalischer und telegraphischer Korrespondenz, die auch Zustellschlüssel genannt wurden, gewonnen werden, da bei großen Veränderungen innerhalb des Lagerbestands diese Listen zwei- bis viermal monatlich erneuert und bei dieser Gelegenheit auch die Umbenennungen eingetragen wurden (siehe z.B. BAU 880 UND ITL, BAU 881 UND ITL). Bei der Zusammenstellung des vorliegenden historischen Faktenmaterials wurden diese Listen häufig verwendet, um aus anderen Dokumenten gewonnene Daten gegenzuprüfen.
Wenn entsprechende Befehle fehlen, wird in den Fußnoten auf die Verwendung dieser und anderer zusätzlicher Quellen für die Datierung hingewiesen.
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