Irina Scherbakova, langjährige
Mitarbeiterin von MEMORIAL Moskau, behandelt in ihrer Arbeit Gefängnisse und Lager im sowjetischen Herrschaftssystem
nicht nur die Entwicklung des
sowjetischen Haftsystems, sondern berichtet auch über
benachbarte Themen wie z.B. die erschwerte Arbeit in russischen
Archiven, über offizielle Schritte zur Rehabilitierung der Opfer
oder über die Entstehung und Zielsetzung der Gesellschaft
MEMORIAL.
Neben einem kurzen Überblick über
russische Forschungsarbeiten zum GULAG geht sie auf die Rolle von
GULAG-Erinnerungen in der Forschung ein und stellt diese in einem
chronologischen Rahmen von Beginn der 20er Jahre bis zur Perestroika
vor.
Scherbakova benennt eine Reihe von
Archiven, in deren Beständen sich wichtige Materialien für
eine umfassende historische Aufarbeitung des Themas befinden,
verweist aber gleichzeitig auf die wechselhaften politischen
Richtlinien: einer allmählichen Öffnung bestimmter Archive
folgt wiederum die allmähliche Schließung.
Der Hauptteil der Studie beschreibt
Entwicklung und Organisation des sowjetischen Strafvollzugssystems,
unterschiedliche Typen von Haftorten, die politisch-administrativen
Organe, Ausbreitung des Lagersystems und Anwachsen der
Häftlingszahlen während des „Großen Terrors“
bis zur Reorganisation des Lagerwesens nach Stalins Tod bzw. der
allmählichen Auflösung.
Im Schlussteil der Studie beschreibt
die Autorin den Beginn des Rehabilitierungsprozesses unter
Chruschtschow, der (mit Unterbrechungen) in das
Rehabilitierungsgesetz von 1991 mündet. (Zum aktuellen Stand der
Rehabilitierungen vgl. den Aufsatz von Kopalin weiter unten). Ebenso
wird die Gründung von MEMORIAL als gesellschaftliche
Organisation beschrieben, die sich darum bemüht, den Opfern
politischer Repression soziale und juristische Hilfe zu gewähren,
die Geschichte des politischen Terrors umfassend aufzuarbeiten sowie
die politischen und sozialen Rechte von Bürgern zu verteidigen.
In der Studie Erinnerung und die
Strategie des kollektiven und individuellen Überlebens im GULag
führt Irina Scherbakova
zahlreiche Interviews mit ehemaligen GULAG-Häftlingen an, in
denen sie der Frage nachgeht, wie ein Überleben in derart
extremen Bedingungen möglich war. Dabei geht sie neben den
physischen Aspekten vor allem auf die psychischen Krisen ein, die
Menschen von Beginn ihrer Verhaftung über
Untersuchungsgefängnisse bis zum Aufenthalt im Lager
durchliefen. Sehr häufig war der Einzelne überhaupt nicht
auf eine Verhaftung vorbereitet, besonders nicht die aktiven
Unterstützer des Regimes, die ebenso zu dessen Opfern wurden:
Parteiaktivisten und andere Funktionsträger waren sich keiner
Schuld bewusst, für sie der Schock der Verhaftung daher
besonders groß.
Mit der Verhaftung kam die Trennung
von Angehörigen, Gefühl der Einsamkeit, psychische
Belastung, gleichzeitig unmenschliche Untersuchung, Erniedrigung,
Gefühl des Verrats.
Andererseits entwickelten sich während
der häufig monatelangen Aufenthalte in Untersuchungsgefängnissen
Kameradschaften, Freundschaften und damit gegenseitige Unterstützung:
der wichtigste Faktor für das Überleben, wie viele der
Interviewten schilderten. Auch die Bildung von Gruppen, in denen sich
die Angehörigen/Mitglieder gegenseitig halfen, nach Einweisung
in Lager wird als überlebensnotwendige Strategie beschrieben.
Meinhard Stark verweist in
seinem Aufsatz Deutsche Frauen im Gulag. Individuelle
Erfahrungen und Verhaltensformen im Haftalltag auf die
besondere Bedeutung der Oral History für die GULag-Forschung:
auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Interviews können
Charakteristika des Haftsystems sowie Verhaltens- und
Überlebensformen der Häftlinge interpretiert werden. Seine
Studie basiert neben dokumentarischen Materialien auf Interviews mit
16 ehemaligen deutschen GULag-Frauen. Stark führt den Begriff
der „Depersonalisation“ ein: eine ganze Reihe an Faktoren
verwandeln die Frauen in rechtlose, demoralisierte Häftlinge -
Verhaftung, zermürbende Verhöre, Beschuldigung als
Schwerverbrecher, katastrophale hygienische Verhältnisse,
fehlender Kontakt zu Angehörigen.
Zwangsarbeit und ein Subregime von
kriminellen Mithäftlingen prägen den Lageralltag. Jeder
Häftling muss eine bestimmte Arbeitsnorm erfüllen, bei
Nichterfüllen droht ihm eine Verringerung der eh schon äußerst
knapp bemessenen Nahrungsration. Viele Schlüsselpositionen in
der Lagergesellschaft (Barackenaufsicht, Essensausgabe etc.) sind
zumeist von Kriminellen besetzt, die ihre eigenen Vorteile
durchsetzen können.
Ein zusätzliches Problem vieler
deutscher Häftlinge waren ferner fehlende Sprachkenntnisse, die
einen Austausch mit russischsprachigen Häftlingen erschwerten
und sie von den anderen isolierte.
Gerhard Armanski differenziert
in seiner Arbeit Der GULag – Zwangsjacke des Fortschritts zunächst zwischen nationalsozialistischen und stalinistischen Lagersystemen. Zwar haben
beide Staaten ein autoritäres, die gesamte Gesellschaft
durchdringendes Terrorsystem errichtet, für beide Lagersysteme
sind massenhafte Unterdrückung durch Terror bis hin zum Tod
charakteristisch. Allerdings unterscheiden sie sich bereits in ihrer
Zielsetzung. In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern
stand die Vernichtung Missliebiger durch sofortige Tötung oder
Arbeit im Vordergrund sowie die Ausschaltung der Opposition, während
der wirtschaftliche Faktor nachgeordnet war. Die stalinistischen
Lager hingegen waren Mittel der staatlich organisierten Zwangsarbeit
und politischen Repression, Häftlinge wurden als billige
Arbeitskräfte missbraucht und ihr Tod billigend in Kauf
genommen.
Armanski führt die Sonderstellung von Deutschland und
Russland im europäischen Kontext als Grund für die
Etablierung der Lagersysteme in den beiden Ländern an. Beide
Staaten versuchten auf gewaltsamen Weg staatliche und ökonomische
Defizite aufzuholen.
Armanski geht ferner auf die Entstehung und
Entwicklungsgeschichte des GULag ein und auf seine Rolle als
Wirtschaftskraft, die häufig defizitär ausfiel, vor allem
wegen der extremen Übernutzung der Arbeitskräfte: die
Produktivität der Häftlinge äußerst gering
aufgrund miserabler Lebensumstände.
Siegfried Jenkner ermöglicht mit seiner Arbeit Erinnerungen politischer
Häftlinge an den GULAG. Eine kommentierte Bibliographie einen umfassenden Überblick über Memoiren deutscher und österreichischer
Häftlinge sowie über Erinnerungen anderer, insbesondere polnischer und russischer Autoren in deutscher Übersetzung.
Der Bericht konzentriert sich auf Memoiren politischer Häftlinge in der Sowjetunion, weshalb Memoiren von verurteilten Kriegsgefangenen, Zivilinternierten
sowie von in sowjetischen Speziallagern in der SBZ/DDR Inhaftierten nicht einbezogen werden.
Nach einer Vorstellung von wissenschaftlichen GULAG-Analysen in deutscher Originalfassung bzw. Übersetzung stellt Siegfried Jenkner GULAG-Erinnerungen vor,
die er sowohl chronologisch als auch nach der Herkunft der Häftlinge kategorisiert.
Der Bericht schließt mit einem alphabetischen Verzeichnis aller genannten Publikationen ab.
In seinem Aufsatz "Der Bazillus der Freiheit
wandert über den Archipel GULAG" – Streiks und
Aufstände in sowjetischen Zwangsarbeitslagern behandelt Siegfried Jenkner Häftlingsrevolten in sowjetischen Lagern von den 20er bis in die 50er Jahre.
Bereits in dem Straflager auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer versuchten politische Häftlinge durch Arbeitsverweigerung und Hungerstreik ihre Forderungen
nach mehr Freiheiten durchzusetzen, worauf die Lagerleitung nach einem Schema handelte, dass auch bei späteren Revolten in anderen Lagern immer wieder
angewandt wurde: protestierende Häftlinge werden zusammengeschossen, mit falschen Versprechungen zur Aufgabe bewegt, danach hart bestraft und
teilweise in andere Lager verlegt.
Jenkner geht besonders auf die drei großen Aufstände der Jahre 1953 und 1954 in Norilsk, Workuta und Kengir ein, die alle blutig
niedergeschlagen wurden. Zwar konnte die Machtstellung der Lagerleitungen durch Einsatz von Gewalt wiederhergestellt werden, doch traten allmählich
Lockerungen des Arbeits- und Lagerregimes sowie umfangreiche Amnestien ein, die laut Jenkner als ein später eintretender Erfolg der Revolten zu werten sind.
Das von MEMORIAL International herausgegebene Lexikon Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR. 1923 – 1960.
enthält Beiträge von Michael Jacobson, Alexandr I. Kokurin, Sergei W. Kriwenko, Sergei P. Sigatschow, Michail B. Smirnow, Sergei G. Filippow, Dmitri W. Schkapow
zu folgenden Themen:
- Das System der Haftanstalten der RSFSR und UDSSR 1917–1930
- Das System der Haftanstalten der UDSSR 1929–1960
- Territorialverwaltungen von Haftanstalten
- Das Gefängnissystem
Paragraph 58 des Strafgesetzbuches der UdSSR
(Sebastian Priess)
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