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Aufsätze über politische Repressionen in der SBZ/DDR

   
 

Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges waren Ostmitteleuropa, große Teile Südosteuropas und auch ein Teil Deutschlands in den Machtbereich der Sowjetunion geraten. In allen diesen Staaten und Gebieten etablierte die Sowjetregierung innerhalb von etwa drei Jahren Satellitenregimes nach ihrem Vorbild, nicht zuletzt mit den Mitteln zunächst direkter, dann indirekter Repression. Ähnlich verfuhr sie auch in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ), die mehrere Jahre direkt dem sowjetischenm Besatzungsregime unterworfen war. Auch hier war das Ziel Moskaus die Errichtung einer an ihrem Modell ausgerichteten Staats- und Gesellschaftsordnung mit gegenüber dem Sowjetregime absolut loyalen Institutionen. Oppositionelle politische Kräfte wurden als untragbares Hindernis in dieser Entwicklung empfunden.

Mit tatkräftiger Hilfe der Besatzungsmacht wurde die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) als im Auftrag des Kreml agierende alleinige Trägerin der Macht aufgebaut, sie und die von ihr gelenkten staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen erhielten im Laufe der Jahre mehr und mehr (anscheinend) eigene Kompetenzen. Die politische Absicherung der neuen Ordnung, insbesondere die Niederhaltung von Opposition und Widerstand (oft unter dem Vorwand der Bekämpfung von Überresten des Nationalsozialismus) durch Repressionsmaßnahmen, vor allem mit Hilfe ihrer Geheimpolizei und Militärjustiz, behielt sich die Besatzungsmacht über mehrere Jahre allein vor. Sie ließ allerdings auch in diesem Bereich deutsche Organe – die Volkspolizei, ab 1950 das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und die DDR-Justiz -– zunehmend scheinbar eigenständig – aber stets unter sowjetischer Kontrolle – agieren.

Das Wirken der sowjetischen Militärjustiz (Sowjetische Militärtribunale – SMT), der sowjetischen Geheimpolizei (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten – NKWD bzw. Ministerium des Inneren – MWD, dann Ministerium für Staatssicherheit – MGB) und ihrer Sonderausschüsse (OSO, bekannt auch unter dem Ausdruck „Ferntribunal“), der Betrieb der ausschließlich der Besatzungsmacht unterstehenden Speziallager und die Verschleppung deutscher politischer „Straftäter“ in die Sowjetunion in den GULag schufen eine Verbindung der deutschen Nachkriegsgeschichte mit der sowjetischen Repression, wie sie so detailliert und ausgedehnt in den anderen Satellitenstaaten nicht existierte.

Daher ist ein großer Teil der Geschichte von SBZ und DDR zugleich ein Teil der Geschichte des politischen Regimes der Sowjetunion. Deshalb haben sich die beiden Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages, die sich in den 90er Jahren mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte befassten, auch den Repressionsteil der sowjetischen Geschichte berührt und außerdem der Einwirkung der Sowjetführung auf die SBZ/DDR besondere Beachtung geschenkt. [Enquête-Kommissionen sind vom Parlament für je eine Wahlperiode eingesetzte Gremien aus Abgeordneten und Wissenschaftlern, die einen bestimmten Themenbereich in Sitzungen und durch Expertisen analysieren und dem Bundestag Empfehlungen für die Gesetzgebung geben können.] Hermann Weber hat vor der Enquête-Kommission ausführlich über den Aufbau der SED, die Gleich- bzw. Ausschaltung der in ihr zunächst enthaltenen sozialdemokratischen Elemente und die Eliminierung nicht bedingungslos linientreuer Teile der Partei berichtet. Die sowjetische Beeinflussung bis hin zu Repressionsmaßnahmen wird dabei ebenso berücksichtigt wie die Verflechtung des Parteiapparats der SED mit dem Staatsapparat, der schließlich zum bloßen Anhängsel der SED-Zentrale degenerierte.

Der Beitrag von Andreas Hilger und Nikita Petrov in dem Sammelband „Sowjetische Militärtribunale“, Bd. 2, schildert detailliert und gestützt auf zahlreiche neuere Quellen die Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsorgane, der Militärjustiz und der Sonderausschüsse beim NKWD/MWD/MGB (OSO) in der SBZ und frühen DDR bis 1955 (nach 1953 waren diese sowjetischen Repressionsorgane in der DDR allerdings kaum noch direkt tätig). In dieser Zeit haben SMT und OSO etwa 35.000 deutsche Zivilisten, darunter etwa 1.200 aus Westdeutschland und West-Berlin, abgeurteilt, etwa 1.000 zum Tode. Letztere wurden zur Urteilsvollstreckung nach Moskau gebracht, von den zu Zeitstrafen Verurteilten vor allem die Arbeitsfähigen in Arbeitslager in der Sowjetunion verschleppt. – Berücksichtigt sind in diesem Beitrag auch der Aufbau deutscher Sicherheits- und Justizorgane in der SBZ/DDR, die nach Gründung der DDR 1949 zunehmend „selbstständig“ arbeiten durften. Politische Straftaten wurden dann häufig auch der DDR-Justiz anvertraut, die mit zahlreichen Terrorurteilen ihre Loyalität gegenüber der Besatzungsmacht unter Beweis stellte.

Für das Verständnis der sowjetischen politischen Repression in der SBZ/DDR sind Kenntnisse über das dort angewandte Besatzungsrecht, insbesondere das politische Strafrecht der Sowjetunion und das dort übliche Strafverfahren von großem Vorteil. Die Urteile der SMT und der OSO in der SBZ/DDR stützten sich ausnahmslos auf sowjetisches Strafrecht und seine in der Sowjetunion übliche extensive Auslegung (insbesondere Artikel 58 – Staatsverbrechen – des StGB der RSFSR von 1926). Die zu diesem Thema notwendigen Informationen sind dem Beitrag von Friedrich-Christian Schroeder im Sammelband „Sowjetische Militärtribunale“ zu entnehmen. Die Anwendung sowjetischen Strafrechts auf Personen, die nicht Staatsbürger der Sowjetunion waren, und auf auf außerhalb der Sowjetunion nicht strafbare Handlungen waren übrigens nach dem Ende des Sowjetregimes häufig die Begründung für die Rehabilitierung Deutscher durch die russische Militärjustiz.

Die Enquête-Kommissionen haben ausführlich die in der SBZ/DDR bis 1950 existierenden, der Besatzungsmacht direkt unterstellten Speziallager untersucht, die faktisch Teil des sowjetischen GULag waren. Hier wurden Deutsche festgehalten, teils Personen, denen die Besatzungsmacht Belastungen im Zusammenhang mit dem NS-Regime vorwarf, teils andere, die ihr wegen ihrer politischen Haltung oder ihres sozialen Status gefährlich zu sein schienen. Die große Masse der Häftlinge der ersten Gruppe waren mehr oder weniger unbedeutende Funktionäre und Mitläufer des NS-Regimes, zur zweiten Gruppe gehörten – im Laufe der Jahre zunehmend – tatsächlich oder anscheinend politisch Oppositionelle. In den Speziallagern waren sowohl Zivilinternierte – ohne irgendeine Verurteilung – als auch durch die SMT Verurteilte inhaftiert. Die Expertise von Jan Lipinsky für die 2. Enquête-Kommission berührt auch das sowjetische Gefängniswesen neben den Speziallagern – zahlreiche Untersuchungsgefängnisse des NKWD/MWD/MGB, von denen manche noch über das Jahr 1950 hinaus existierten. Detailliert beschrieben sind alle wichtigen Aspekte der Speziallager von ihrer Struktur, Verwaltung und Unterstellung über die Haftbedingungen bis zu Entlassungen und zur Übergabe der Häftlinge an den DDR-Strafvollzug. Dazu gehören die „Waldheimer Prozesse“, in denen von einer Art Sondergerichten der DDR im Frühjahr 1950 über 3.400 angebliche „Nazi- und Kriegsverbrecher“ (in Wirklichkeit zu einem großen Teil Oppositionelle ohne jegliche NS-Belastung) zu drastischen Strafen (darunter 33 Todesurteile) verurteilt wurden. Die Aburteilung dieser aus den Speziallagern an die DDR übergebenen Personen war ein mehr oder weniger misslungener Test, ob DDR-Gerichte die SMT bei politischen Prozessen ersetzen könnten; die SMT setzten deshalb ihre Tätigkeit in der DDR bis 1953 unvermindert fort.

Die Expertisen von Achim Kilian und Gerhard Finn für die beiden Enquête-Kommissionen enthalten ebenfalls zahlreiche Informationen über die Speziallager und ihre Vorgeschichte mit umfangreichem Zahlenmaterial, aber auch über die Tätigkeit des NKWD/MWD/MGB in der SBZ/DDR, die nicht unmittelbar mit den Speziallagern zusammenhing. In diesen Berichten sind die Erfahrungen der beiden Autoren als Zeitzeugen, die selbst Häftlinge in den Speziallagern waren, mit einbezogen.

Opposition und Widerstand in der deutschen Bevölkerung waren in vielen Fällen ein Hintergrund der Verfolgungen durch die Besatzungsmacht. Diese Erscheinungen, unmittelbar nach Kriegsende zunächst schwach ausgeprägt, nahmen zwei bis drei Jahre später aber deutlich zu. Sie erfassten nahezu alle politischen und sozialen Gruppen und Schichten – Studenten und Schüler, Lehrer, Kommunalpolitiker, Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien CDU und LDPD, in großer Zahl auch Sozialdemokraten, die sich gegen die Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED zur Wehr setzten, und nicht zuletzt Arbeiter, die sich mit Streiks und darüber hinaus am Volksaufstand des 17. Juni 1953 beteiligt hatten. Karl Wilhelm Fricke informierte darüber die 1. Enquête-Kommission in einer Sitzung, wobei in diesem Vortrag Opposition und Widerstand von 1945 bis Ende der 50er Jahre und weniger der Aspekt der Verfolgung im Vordergrund standen.

Zu den Folgen der Repressionen in der SBZ/DDR gehört eine umfangreiche Lager- und Gefängnisliteratur, über die der Germanist Jörg Bernhard Bilke in einer Expertise für die 1. Enquête-Kommission über die Zeit bis 1993 berichtet. (Die nach dem Ende der DDR erschienene umfangreiche Literatur zu diesem Thema ist somit nur zu einem kleinen Teil berücksichtigt.) Erfasst sind einige Dokumentationen und wissenschaftliche Monographien, vor allem aber Erlebnisberichte, Autobiographien, Romane u. a. Den Schwerpunkt bilden die Jahre nach 1955 bis zum Ende der DDR, als MfS und DDR-Justiz allein unmittelbar für die politische Verfolgung verantwortlich waren.

Der juristische und moralische Abschluss der Repression in der SBZ/DDR waren die Rehabilitierungen, die die russische Militärjustiz nach 1991 aussprach. Über ihre Vorgeschichte, den bisherigen Verlauf und die Grundzüge des Verfahrens berichtet Leonid Kopalin (Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Moskau). Vom Vom Inkrafttreten des russischen Rehabilitierungsgesetzes 1991 bis 2002 sind 632.000 sowjetische/russische Bürger und Ausländer rehabilitiert worden. Den Umfang dieser Aufgabe kann man ermessen, wenn man erfährt, dass während des Zweiten Weltkrieges 994.000 sowjetische Militärangehörige von Militärtribunalen verfolgt und davon über 147.000 erschossen wurden. Auf die Rehabilitierungen nach Stalins Tod 1953 bis zu deren Ende in der zweiten Hälfte der 60er Jahre geht Kopalin nur am Rande ein, sie waren „selektiv, inkonsequent“. In der SBZ/DDR sind nach seinen Angaben etwa 40.000 Deutsche von der sowjetischen Militärjustiz verurteilt worden, dazu kommen 32.000 deutsche Kriegsgefangene und Internierte, die in der Sowjetunion verurteilt wurden. Kopalin stellt die politische Verfolgung anhand zahlreicher Beispiele dar, einschließlich der dann erfolgten Rehabilitierung (oder ihrer Verweigerung im Falle mutmaßlicher Kriegsverbrechen oder sonstiger Gewaltakte). Grundsätzlich wurden wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ Verurteilte und damit ein sehr großer Teil verfolgter Oppositioneller rehabilitiert. Von 1991 bis 2002 sind über 17.000 Rehabilitierungsanträge Deutscher bearbeitet worden. Etwa 10.000 Antragsteller wurden rehabilitiert, in 5.000 Fällen wurde die Rehabilitierung abgelehnt. Kopalins Erläuterungen des Rehabilitierungsverfahrens sowie seine Beispiele für Erteilung oder Verweigerung der Rehabilitierungsbescheinigung machen allerdings die russische Rehabilitierungspraxis nicht ausreichend transparent. Dieser Eindruck ergibt sich zum Beispiel bei der Lektüre des 2005 veröffentlichten Totenbuches „Erschossen in Moskau“, wo aus den Angaben über die Urteilsgründe in vielen Kurzbiographien auf politischen Widerstand des Verurteilten geschlossen werden kann, die Rehabilitierung aber nicht vorgenommen wurde.


(Thomas Ammer)