biographie

 
   
 
 

Gerhard "Jeff"

Nieckau

 
 

Donnerstag, 28. Oktober 1948:

Eiswind, Schneesturm, Wirbelsturm, das alles und noch viel mehr sind die Bestandteile der "Purga", des nördlichen Wintersturmes. Kaum hatten wir heute früh auf der Baustelle mit der Arbeit begonnen, kam ein Läufer aus dem Lager: "Purga-Warnung! Sofort einrücken!" Bei diesem Befehl geht der Blick automatisch zuerst auf die Uralberge, denn ihr Verschwinden kündigt das Unwetter an. Uns gegenüber war die Sicht noch frei, nur weiter hinten war alles verschwunden, es stand nur noch ein milchiges Grau. Stand? Nein, es kam auf uns zu, aber das konnten wir zunächst nicht bemerken, weil wir in äußerster Eile das Arbeitsgerät einpackten und uns in Marsch setzten. Um so deutlicher sahen wir auf dem Rückmarsch, mit welcher Geschwindigkeit die unheimliche Wand auf uns zukam. Wie von selbst wurden unsere Schritte schneller. Wir mussten das Lager vor diesem Unwetter erreichen, denn auf der ganzen Strecke gab es keine Deckung. Überfiel uns die Purga hier, würde sie sich unweigerlich einige Opfer holen. Der Sturm ist stark genug, um selbst Gesunde umzuwerfen, und ein einfaches Hinfallen genügt schon. Niemand sieht den Gefallenen, die Purga drückt ihn nieder, sobald er versucht sich aufzurichten, und der Grabhügel aus Schnee entsteht mit unglaublicher Schnelligkeit.

Das wussten auch unsere "Konvoi"-Soldaten und die Samo-Ochraniki, deshalb klang ihr "Dawaii, dawaii!" immer erregter und immer häufiger....

So erreichten wir schnell das Lagertor, gerade rechtzeitig, um einen zweiten, längeren Windstoß im Schutze des Lagerzaunes zu überstehen. Das Tor wurde natürlich nicht geöffnet, sonst wäre es um seine beiden Flügel geschehen gewesen, sondern wir wurden durch die schmale Pforte am Wachgebäude in die Zone gelassen.

Im Lager pfiff und rüttelte der Sturm bereits in allen Tonarten und Stärkegraden: Der Tanz der Tundra, die Purga, hatte begonnen. Die hinteren Baracken waren in der grauen Wand verschwunden, wir mussten uns mühsam zu unserer Behausung, die wir gerade noch sehen konnten, durcharbeiten. Schemenhaft sahen wir noch die Gestalten einiger Arbeiter, die die letzten Lauftaue von den Wohnbaracken zur Küchenbaracke spannten. Das sind dicke Taue, die über im Boden eingegrabene und festgefrorene Halteständer entlang der Wege gezogen werden, damit man sich beim Gehen daran festhalten kann. Aber das ist keineswegs nur für Invaliden und Entkräftete, sondern für alle, weil die Kraft der Purga unter Umständen auch den stärksten Mann umhaut. Oft schon hat man im Lager nach den Tagen der Purga Tote, die durchaus keine Schwächlinge waren, unter Schneehügeln an diesen Wegen gefunden.

Gerhard "Jeff" Nieckau: Im GULAG. Aus der Kriegsgefangenschaft ins sowjetische Arbeitslaqer. Verlag E.S.Mittler & Sohn Hamburg / Berlin / Bonn 2003, S.149/150.

(Textauszug S. Jenkner)

   
 

1923

Geboren.

1944

Wird als Jagdflieger über Lettland abgeschossen und gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

1947

Denunziation als angeblicher britischer Spion.
Verhaftung im Lager und Überführung in das Moskauer Gefängnis Lubjanka.
Verurteilung zu zwölf Jahren Zwangsarbeit.

1947-1950

Strafverbüßung im nordrussischen Petschoragebiet.

1950-1955

Lagerhaft im mittelsibirischen Gebiet von Taischet.

1955

Amnestie und Übergabe an die britischen Militärbehörden in Deutschland.
Niederschrift seiner Lagererfahrungen unmittelbar nach der Rückkehr.
Langjährige Arbeit als Autor und Toningenieur bei Rundfunk und Fernsehen.

2003

Fertigstellung und Publikation der Erinnerungen erst im Ruhestand.
Lebt heute im Allgäu.

Lagerhaft in

SEELAGER, NORD-PETSCHORA-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Fotos und Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe KOEHLER/MITTLER.