biographie

 
   
 
 

Margarete

Mehlhemmer

 
 

Und dann kam der erste Arbeitstag. Zum Glück schien die Sonne, aber es war bitter kalt, unter minus 30 Grad. Die Wege waren festgetretene Schneewälle. Zum Holzplatz gab es bereits eine Gehspur, auf der wir uns kaum halten konnten, da wir ja in Fünferreihen marschieren mußten. Vorne, hinten und an den Seiten wurde unsere Kolonne von Konvois bewacht, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett trugen. Hunde, die zum Fürchten aussahen, waren auch dabei; sie wurden gnadenlos auf jede gehetzt, die vom Weg abkam. Die Rede, die der "Natschalnik Konvoia" uns zu Beginn des Marsches gehalten hatte, verstanden wir nicht; sie drohte für alle möglichen Ungehorsamsdelikte schwerste Strafen an. Auf die Dauer hat das kaum noch jemanden beeindruckt, man gewöhnt sich an die ewige Bedrohung, und der Tod ist für viele keine Strafe mehr.

Zum ersten Mal sah ich Sibirien. Die unendliche Weite der Schneelandschaft überwältigte mich - selbst als Häftling empfand ich diesen Reiz, zumal Natur in jeder Art und Gestalt mich immer gestärkt und über mein Elend erhoben hat, selbst wenn die Zwangsarbeit über meine Kräfte ging. Diese Kraftquelle muß ich preisen, ihr verdanke ich das Überleben.

In den ersten Tagen der Fronarbeit erschöpfte ich meine Kräfte an den Naturgewalten. Selbst das Ziehen der noch leeren Schlitten durch die Schneemassen war eine große Anstrengung. Als wir das Ziel erreichten, den Stapelplatz, wo sich Berge von Baumstämmen türmten, waren wir Deutsche im Gegensatz zu den Russinnen schon völlig erschöpft. Gipsy, die einer anderen Brigade angehörte, zeigte eine bewundernswerte Geschicklichkeit. Mit einer Behendigkeit ohnegleichen erklomm sie den Stapel und mit einem Werkzeug, das aussah wie ein Speer mit Widerhaken, brachte sie die Stämme ins Rollen. Unten galt es nur, nicht unter die rollenden Stämme zu geraten. Es hat lange gedauert, bis auch ich derartige Griffe meisterte, und noch nach Jahren hatte ich, wenn das Kommando "Stapelowka" ertönte, das Bild der schönen, katzengeschmeidigen Gipsy vor meinen Augen, die so gut zu mir gewesen war.

Wir hatten viele Stunden zu arbeiten und fühlten uns wie gerädert, als es hieß, mit den geladenen und mit Seilen verschnürten Schlitten den Heimweg anzutreten. Eine fast unmenschliche Anstrengung war der lange Weg ins Lager, aber auch dieser erste Tag ging vorüber, dem noch so viele folgen sollten...

Margarete Mehlhemmer: Überleben in zwei Diktaturen. Westkreuz-Verlag Bad Münstereifel 2000, S.142/143.

(Textauszug S. Jenkner)

   
 

1894

In Frankfurt/M. geboren. Heirat mit Alfred Mehlhemmer, Inhaber einer Fabrik für Flugzeugpropeller bei Berlin.

1941

Haft des Mannes im KZ Oranienburg wegen des Versuchs, einen Geheimsender einzurichten.

nach 1939

Wegen Mitgliedschaft in der Zentrums-Partei Ausschluss des Ehemannes aus der Kriegsproduktion.

1942

M. Mehlhemmer erreicht Freilassung des Mannes aus der Haft.
Wenige Wochen später fingierter Überfall und Ermordung A. Mehlhemmers im Auftrag der Potsdamer Gestapo.

1945

Lebt als anerkanntes Opfer des Faschismus in der SBZ/DDR. Nimmt Kontakt zu amerikanischen Freunden aus der NS-Widerstandszeit auf.

1951

Denunziation, Verhaftung und Verurteilung in Potsdam per Fernurteil zu zwanzig Jahren Arbeitslager.

1951-1955

Strafverbüßung im mittelsibirischen Lagergebiet Taischet, schwere Wald- und Feldarbeit.

Herbst 1955

Entlassung aus der Haft.

1965-1971

Verfasst ihre Erinnerungen. Immer stärkere Depressionen.

1971

Freitod.

2000

Veröffentlichung ihrer Aufzeichungen über "Das Überleben in zwei Diktaturen" durch Friedrich-Franz Wiese.

Lagerhaft in

SEELAGER

   
 

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Die Veröffentlichung des Fotos und Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Westkreuz-Verlags.