biographie

 
   
 
 

Dorothea

Garai

 
 

Das ferne Land Kolyma war wie eine Insel. Nur Schiffe verbanden es übers Ochotskische Meer mit dem »Festland«, dem »Mutterland«, wie wir es sehnsüchtig nannten, Flugzeuge brachten regelmäßig das Gold fort, das hier geschürft wurde von abertausend Gefangenen ohne Maschinen, ohne Gerät.

Mit der Spitzhacke brachen wir das Erz aus dem Fels. Mit bloßen Händen warfen wir es auf die Schubkarren. Mit Schmiedehämmern zerkleinerten wir das Gestein. In Holztrögen wuschen wir das Gold heraus. Diese Arbeit brauchten die Kriminellen nicht zu tun. Sie blieb uns vorbehalten, den Politischen, den Volksfeinden. Wir durften nicht in unseren Berufen arbeiten, als Ärzte, Ingenieure oder was wir sonst alles waren. Nicht einmal zum Tellerwaschen waren wir zugelassen, wir hätten ja die »Freunde des Volkes« vergiften können, unsere Sklavenhalter.

Spitzhacken wühlen den Grund auf. Schaufeln schütten Schubkarren voll. Schubkarren werden über schmale Bretterstege gestoßen. Haben Sie mal so eine Schubkarre gefahren? Vorn ein Rad, hinten zwei Räder. Gehäuft voll die Karre über schmalen Brettersteg balancieren, schweres Gestein, Felsbrocken: Gold. Tempo! Tempo! Vordermann! Tempo, sonst fahr ich dich in Klump. Denkst du, ich will erschossen werden deinetwegen? Wehe, du stürzt! Wehe, du verlierst die Balance!

Es gibt einen Gott, der sieht alles, der Wachtposten da, mit dem Gewehr im Arm, er schreibt schon den Namen, welchen, das wirst du heut nacht erfahren, wenn das Kommando kommt und dich zum Erschießen holt. Die Karre hinter dir stößt dich voran. Einer stolpert. Nur nicht fallen! Einer stürzt, alle stürzen wie von der Schnur gezogen vom Brettersteg ab. Die Zufuhr stockt, die Zufuhr zum Sieb, zum Goldgesteinsieb.

Hören Sie es brüllen? »Karren«, schreit die Wachmannschaft, »Karren, wo bleiben die Karren?« Die Norm nicht erfüllt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Hunger! Wenn die Norm nicht erfüllt wird, gibt es nichts zu essen. Wird sie zweimal nicht erfüllt: Einzelhaft. Dunkelhaft. Verschärfte Dunkelhaft. Schließlich: die schon bekannten, jede Nacht erwarteten Schritte von Stiefeln auf den Planken.

Karl-Heinz Jakobs: Das endlose Jahr. Meine Begegnungen mit Mäd. Claassen Verlag Düsseldorf 1983, S. 48/49 und 52/53.

(Textauswahl: S. Jenkner)

   
 

1899

Geboren.

seit 1933

Lebt als Kommunistin im Moskauer Exil und arbeitet als Militärdolmetscherin.

1937

Verhaftung und Verurteilung zu zehn Jahren Arbeitslager.

1937-1950

Haftverbüßung im fernöstlichen Lagergebiet von Kolyma.

1950-1956

"Ewige Verbannung" im mittelsibirischen Abakan.

1956

Rehabilitierung und Ausreise in die DDR. Lebt in zunehmender Verbitterung, da sie über ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Enttäuschungen öffentlich weder sprechen noch schreiben darf.

1970er Jahre

Erzählt ihre Lagererinnerungen ihrem ostdeutschen Schriftstellerkollegen Karl-Heinz Jakobs.

1982

Gestorben.

1983

Garais Lebensbericht wird nach ihrem Tod in der Bundesrepublik veröffentlicht. Das Buch zeigt auch, wie die "Begegnungen mit Mäd" (so der Untertitel mit dem Kosenamen der Erzählerin) das eigene systemkritische Denken Karl-Heinz Jakobs' beeinflussten.

Lagerhaft in

NORDÖSTLICHES ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Ullsteinbuchverlags.