biographie

 
   
 
 

Susanne

Leonhard

 
 

Inzwischen hatten wir die Wohnungsverhältnisse der Zwangsübersiedelten gesehen und mußten feststellen, daß die Wolgadeutschen noch viel schlechter untergebracht waren als wir. In einem mittelgroßen Raum lebten meisten zwei Familien, oft waren das zehn oder elf Personen. In manchen Hütten gab es nicht ein einziges Bett. Daß Kinder von zwei, drei Jahren auf der Erde schliefen, war überall gang und gäbe, auch bei den wohlhabenden Russen. Wir hatten im Lager geglaubt, schon das Minimum an Behausungskultur kennengelernt zu haben, und nun stellte sich heraus, daß hier Menschen seit Generationen noch dürftiger nächtigten, als wir es im Lager gewöhnt gewesen waren.

...

Wir begannen um sieben Uhr früh mit der Arbeit, und war das zugeteilte Terrain bei Sonnenuntergang noch nicht fertig gejätet, so mußten wir bis neun oder zehn Uhr abends arbeiten. Die Mittagssuppe wurde aufs Feld gefahren, so daß wir selten länger als eine halbe Stunde Mittagspause hatten. Nicht einmal im Lager war ich derart ausgebeutet worden. Abends hatten wir dick angeschwollene Gesichter. Auch die Füße waren stets geschwollen. Bei mir erstreckte sich die Schwellung nur auf die Unterschenkel, aber Tina klagte über "Wasser im Bauch". Im Lager hatten wir immerhin eine ordentliche medizinische Betreuung gehabt. In Kubanka aber gab es weder "Invalide", noch gab es einen Arzt. Ich hatte mehrere Herzanfälle, und niemand kümmerte sich darum. Es war nur eine Hebamme im Ort, die von Medizin nichts verstand, außer dem bißchen Feld-, Wald- und Wiesen-Gynäkologie, die ihr Handwerk war. Die unwissende grobe Person gab niemals Arbeitsbefreiung, außer wenn jemand sich das Bein gebrochen hatte oder wenn eine Frau ein Kind gebar.

Susanne Leonhard: Gestohlenes Leben. Als Sozialistin in Stalins Gulag. Athenäum Verlag, Frankfurt/Main 1988, S. 418 und 423.

(Textauszug S. Jenkner)

   
 

1895

Geboren.
Studium der Mathematik und Philosophie, arbeitete in Berlin als Publizistin.

1925

Austritt aus der KPD.

1935

Emigration mit ihrem Sohn Wolfgang in die Sowjetunion.

1936

Verhaftung in Moskau. Wegen "konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit" zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt.

Bis 1945

Strafverbüßung im nordrussischen Petschoragebiet, Kotschmes.

Nach 1945

Verbannung nach Sibirien in das Altai-Gebiet, wo sie auf dem Staatsgut Kubanka zusammen mit zwangsumgesiedelten Russlanddeutschen lebte und arbeitete.

1948

Ausreise in die SBZ.

1949

Wechsel nach Westdeutschland, Stuttgart. Arbeitete dort wieder als Publizistin.

1950

Niederschrift ihrer Erinnerungen.

1956

Veröffentlichung ihrer Erinnerungen "Gestohlenes Leben", die später in mehreren Auflagen und in verschiedenen Verlagen erscheinen.

1984

Gestorben.

Lagerhaft in

WORKUTA-ITL

     
 

Fotos, Illustrationen und Dokumente

Die Veröffentlichung des Fotos und Buchauszugs erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Elke Leonhard.